Widerspruch in der Bibel?!? Wie viele Israeliten zogen nach Ägypten?

Die Geschichte von Josef kennen wir alle. Nachdem ihn seine Brüder als Sklaven nach Ägypten verkauft hatten, stieg er dort bis zum Wesir auf, und holte nach der Versöhnung seinen Vater und seine Brüder aus Kanaan nach.

Aber wie viele Israeliten zogen insgesamt nach Ägypten? Josefs Geschichte findet sich zwei Mal in der Bibel. In der Apostelgeschichte 7:14 wird die Anzahl der Personen wie folgt angegeben:

Josef aber schickte nach seinem Vater und liess ihn und alle seine Verwandten zu sich kommen, fünfundsiebzig Leute.

In Genesis 46:27 steht jedoch eine andere Zahl:

Alle zusammen vom Haus Jakobs, die nach Ägypten kamen: siebzig.

Jakobs Familie

Wie viele Israeliten zogen nach Ägypten?

Wie viele Nachkommen Jakobs sind mit nach Ägypten gezogen? Zählen wir sie durch. Es werden nur die männlichen Nachkommen gezählt. In Genesis 46 sind sie aufgelistet, die meisten sogar mit Namen. Jakobs Söhne in Kanaan und deren Söhne zählten insgesamt 66 Personen, Josef und seine Söhne zählten insgesamt 3 Personen, hinzu kommt Jakob selbst, das macht 70 Personen.

Wo kommen also die fünf fehlenden Personen her? Um das Rätsel zu lösen, müssen wir die Josefsgeschichte vorerst hinter uns lassen, und uns den Handschriften des Alten Testaments zuwenden.

Wo kommt der Text von Genesis her?

Jede Bibel, die wir heute in der Buchhandlung unseres Vertrauens kaufen, wurde von hebräischen Handschriften aus dem 11. Jahrhundert übersetzt.

Der Text dieser Handschriften wird auch der masoretische Text genannt. Die älteste vollständig erhaltene hebräische Handschrift des Alten Testamentes ist der Leningrad-Codex. Dieser wurde im Jahr 1008 n.Chr. in Kairo geschrieben.

Ursprünglich geschrieben wurde das Buch Genesis um das Jahr 1400 v. Chr. Zwischen dem Urtext und dem ältesten erhaltenen kompletten Text liegen also gut 2400 Jahre. In so einem langen Zeitraum passieren gelegentlich Abschreibefehler. Es sind zwar nicht viele, aber es kommt trotzdem vor.

Wir wollen also untersuchen, ob mit dem Vers in Genesis 46:27 etwas passiert ist, bevor Stephanus in seiner Predigt um das Jahr 36 n. Chr. auf genau diesen Vers Bezug nimmt.

Bei solchen Fragen ist es meistens hilfreich, sich griechische und hebräische Handschriften und Fragmente anzusehen, die wesentlich älter als der Leningrad-Codex sind.

Noch ältere Texte

Die Schriftrollen vom Toten Meer wurden über einen Zeitraum von etwa 250 v. Chr. bis etwa 70 n. Chr. geschrieben, die meisten von ihnen im 1. Jahrhundert v. Chr. Nur wenige Schriftrollen haben die Zeit unbeschädigt überstanden. Die Texte haben also große Lücken. So fehlt leider auch fast das komplette Kapitel, das uns interessiert, Genesis 46.

Die Septuaginta ist die griechische Übersetzung des Alten Testaments. Sie wurde um das Jahr 250 v. Chr. in Alexandria angefertigt. Die älteste erhaltene Handschrift, der Codex Vaticanus, wurde um das Jahr 325 n. Chr. geschrieben.

Die Verse, die die Ungereimtheiten erklären, schauen wir uns gleich im Detail an. Abweichende Zahlenangaben sind eine der häufigsten Arten von Textabweichungen. Interessanterweise stimmen bei solchen Abweichungen oft die Septuaginta und die Schriftrollen vom Toten Meer überein, während der masoretische Text abweicht. In diesem Fall fehlt das Kapitel in den Schriftrollen vom Toten Meer. Trotzdem können wir davon ausgehen, dass der Text aus der Septuaginta korrekt ist, da er auch durch Stephanus bestätigt wurde.

Die Texte im Vergleich

Der komplette Vers aus Genesis 46:27 lautet im hebräischen Text:

Und die Söhne Josefs, die ihm in Ägypten geboren wurden: zwei. Alle zusammen vom Haus Jakobs, die nach Ägypten kamen: siebzig.

In der Septuaginta sieht der Vers wie folgt aus:

Die Söhne des Joseph aber, die ihm im Land Ägypten geboren wurden, waren neun Seelen. Alle Seelen von Jakobs Haus, die nach Ägypten einzogen, waren 75.

Also hat nicht nur Jakobs Familie in der Septuaginta fünf zusätzliche Mitglieder, sondern Josefs Familie auch.

Schauen wir uns zusätzlich Genesis 46:20 an, wo Josefs Nachkommen aufgelistet werden. Im Hebräischen lautet er:

Und Josef wurden im Land Ägypten Manasse und Efraim geboren, die ihm Asenat gebar, die Tochter Poti-Feras, des Priesters von On.

Dieser Vers ist im griechischen Text deutlich länger:

Söhne Josephs aber im Land Äypten waren die, die ihm Asenneth, die Tochter des Petephres, Priester von Heliopolis, geboren hatte: Manasse und Ephraim. Söhne des Manasse aber waren die, die ihm die syrische Nebenfrau geboren hatte: Machir. Machir aber zeugte Galaad. Die Söhne des Ephraim aber, Manasses Bruder: Suthalaam und Taam. Die Söhne des Suthalaam aber: Edem.

Die Auflösung des Widerspruchs

In den Kulturen des Vorderen Orient zählen Enkel und Urenkel mit zu den Söhnen. Daher sind alle neun Nachkommen Josefs seine Söhne.

Ich gehe davon aus, dass Genesis 46:20 im hebräischen Original länger war, so wie in der Septuaginta, und dass die zweite Hälfte des Verses irgendwann einmal beim Abschreiben vergessen wurde. Später hat dann ein Schreiber, der es gut meinte, einmal nachgezählt, und gemerkt, dass die Zahl siebzig nicht mehr mit der Auflistung der Personen übereinstimmt, und daraufhin die Zahl angepasst. Also wie viele Israeliten zogen nach Ägypten? Es waren 75.

Leider korrigiert keine der zahlreichen deutschen Bibelübersetzungen, die ich durchgegangen bin, diesen offensichtlichen Fehler. Lediglich die Neue evangelistische Übersetzung weist in einer Fußnote darauf hin.

Es gibt viele angelbliche Widersprüche dieser Art, die sich durch Nachschlagen in der Septuaginta leicht auflösen lassen. Leider hinken wir in Deutschland mit der Zugänglichkeit dieser Texte noch etwas hinterher. Die Deutsche Bibelgesellschaft bietet die Septuaginta für 64 Euro an. Die Schriftrollen vom Toten Meer sind meines Wissens nach überhaupt noch nicht nach Deutsch übersetzt worden.

Wesentlich günstiger geht es, wenn man sich mit englischen Texten anfreunden kann. Die NETS ist online kostenlos nutzbar. Die Dead Sea Scrolls Bible ist zwar nicht kostenlos einsehbar, aber im Buchhandel für um die 20 Euro erhältlich.

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